Of­fe­ner Brief einer Kom­mu­ne

Eine Deut­sche Stadt for­dert Ende der Selbst­mord-Sank­tio­nen von Ha­beck.

Die erste Kom­mu­ne, die Stadt Rei­chen­bach im Vogt­land in Sach­sen, for­dert im Of­fe­nen Brief an Ha­beck, dass end­lich Ver­stand ein­keh­re in der Po­li­tik. Hier der Voll­text:

Of­fe­ner Brief des Kri­sen­sta­bes En­er­gie der Stadt Rei­chen­bach im Vogt­land an­läss­lich der En­er­gi­e­not­la­ge

Sehr ge­ehr­ter Herr Bun­des­mi­nis­ter Dr. Ro­bert Ha­beck,

wir rich­ten die­sen Brief an Sie, weil wir die In­ter­es­sen der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, Mie­te­rin­nen und Mie­ter, Kun­din­nen und Kun­den und der Wirt­schaft der Stadt Rei­chen­bach im Vogt­land ver­tre­ten und ge­gen­wär­tig ernst­haft be­sorgt sind.

Ge­gen­wär­tig – so un­se­re Ein­schät­zung – steu­ern wir mit hoher Ge­schwin­dig­keit auf eine schwe­re Re­zes­si­on hin, wel­che zu mas­sen­haf­ten In­sol­ven­zen, ins­be­son­de­re von klein- und mit­tel­stän­di­schen Un­ter­neh­men, füh­ren wird. Die be­tei­lig­ten Ver­tre­ter der Wirt­schaft haben Exis­tenz­ängs­te be­züg­lich ihrer Un­ter­neh­men, ihrer Fa­mi­li­en und der Zu­kunft ihrer Be­schäf­tig­ten. Die Sorge um eine be­zahl­ba­re Grund­ver­sor­gung mit Strom und Gas sowie die ge­ne­rel­le Be­reit­stel­lung von an­de­ren Roh­stof­fen in nun­mehr allen Be­rei­chen ist durch eine Viel­zahl von plau­si­blen Grün­den fun­diert.

Kon­kret haben wir Un­ter­zeich­ne­rin­nen und Un­ter­zeich­ner die­ses Briefs den Ein­druck, dass aus der emo­tio­na­len Em­pö­rung über den An­griffs­krieg der Rus­si­schen Fö­de­ra­ti­on auf die Ukrai­ne po­li­ti­sche Ent­schei­dun­gen re­sul­tier­ten, deren Aus­wir­kun­gen gra­vie­ren­de Fol­gen für die Be­völ­ke­rung in un­se­rem Land haben wer­den, wel­che durch eine ra­tio­na­le­re Ana­ly­se und das Vor­han­den­sein einer Stra­te­gie in die­sem Aus­maß ver­meid­bar ge­we­sen wären. Im Klar­text be­deu­tet dies, dass nicht der Krieg per se seine Fol­gen zei­tigt, son­dern die un­mit­tel­ba­re Ur­sa­che in den eu­ro­päi­schen Sank­tio­nen zu er­ken­nen ist.

Nach Art. 56 GG lau­tet der Amts­eid, den Sie sowie alle Mit­glie­der der Bun­des­re­gie­rung zum An­tritt Ihres Amts ge­schwo­ren haben, wie folgt:

Ich schwö­re, daß ich meine Kraft dem Wohle des deut­schen Vol­kes wid­men, sei­nen Nut­zen meh­ren, Scha­den von ihm wen­den, das Grund­ge­setz und die Ge­set­ze des Bun­des wah­ren und ver­tei­di­gen, meine Pflich­ten ge­wis­sen­haft er­fül­len und Ge­rech­tig­keit gegen je­der­mann üben werde.

Zur­zeit bahnt sich an, dass der Scha­den, wel­cher der hie­si­gen Be­völ­ke­rung durch die Sank­tio­nen zu­ge­fügt wird, den Nut­zen im Sinne der Ver­tre­tung der In­ter­es­sen der Be­völ­ke­rung die­ses Lan­des bei wei­tem über­steigt. Wir müs­sen die Er­kennt­nis kla­rer­wei­se ak­zep­tie­ren, dass uns Russ­land macht­po­li­tisch über­le­gen ist, denn wir be­fin­den uns in einer weit­ge­hend ein­sei­ti­gen Ab­hän­gig­keits­be­zie­hung.

Nichts­des­to­trotz wol­len wir mit aller Deut­lich­keit klar­stel­len, dass wir auf kei­nen Fall die Kriegs­ver­bre­chen der rus­si­schen Re­gie­rung to­le­rie­ren. Sie sind ab­scheu­lich und ver­ach­tens­wert. Den­noch sind wir der Mei­nung, dass Ver­hand­lun­gen mit eben­die­ser un­ab­ding­bar sind. Von wei­te­ren Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne dis­tan­zie­ren wir uns, da wir somit de facto zur Kriegs­par­tei wer­den und Ver­hand­lun­gen un­mög­lich ma­chen.

Das Leid der ukrai­ni­schen Be­völ­ke­rung ist zu­tiefst be­drü­ckend. Wol­len wir diese je­doch wei­ter­hin fi­nan­zi­ell un­ter­stüt­zen, braucht Deutsch­land eine sta­bi­le Volks­wirt­schaft.

Un­se­re Volks­wirt­schaft wird auf rus­si­sche Gas­lie­fe­run­gen in den nächs­ten Jah­ren nicht ver­zich­ten kön­nen, ohne dass es zu mas­si­ven so­zia­len Ver­wer­fun­gen kommt, die wir alle ver­mei­den wol­len. Ein Ver­zicht auf rus­si­sche Erd­gas­lie­fe­run­gen muss lang­fris­tig und plan­mä­ßig er­fol­gen.

Wir möch­ten an die­ser Stel­le ganz klar zum Aus­druck brin­gen, dass wir die An­sicht des Mi­nis­ter­prä­si­den­ten des Frei­staa­tes Sach­sen, Mi­cha­el Kret­sch­mer, voll­um­fäng­lich tei­len und un­ter­stüt­zen.

Soll­ten die Strom- und Gas­prei­se wei­ter­hin auf die­sem hohen Ni­veau blei­ben, wer­den die Un­ter­neh­men nach und nach die Pro­duk­ti­on zu­rück­fah­ren bzw. kom­plett ein­stel­len. Die Ver­sor­gungs­si­cher­heit wird nicht mehr ge­währ­leis­tet sein und in­fol­ge­des­sen wird die Exis­tenz zahl­rei­cher Bür­ge­rin­nen und Bür­ger sowie Un­ter­neh­men ge­fähr­det sein.

So be­rich­tet die En­er­gie­wirt­schaft, dass die Preis­si­tua­ti­on im Gas­ein­kauf dra­ma­ti­sche Aus­ma­ße an­ge­nom­men hat. Im Mo­ment ist für das Jahr 2023 ein An­stieg von 55 % zu ver­zeich­nen, ohne staat­li­che Ein­grif­fe, d. h. ohne ver­ord­ne­te Ab­ga­ben, wie die Um­la­gen zur Uni­per-Ret­tung, dem En­er­gie­spei­cher­ge­setz, dem Er­satz­kraft­wer­ke-Be­reit­hal­tungs­ge­setz und der Um­la­ge zur En­er­gie­si­cher­heit. Kom­men letz­te­re noch hinzu, dann sind es be­reits 100 % Ein­kaufs­kos­ten­stei­ge­rung. Dies be­trifft pro­dukt- und grund­ver­sorg­te Kun­den. Bei In­dus­trie­kun­den gibt es sogar Stei­ge­run­gen von bis zu 700 %. Die Ge­fähr­dung von Exis­ten­zen, so­wohl im pri­va­ten als auch im ge­werb­li­chen Be­reich, sind vor­pro­gram­miert.

Die En­er­gie­un­ter­neh­men gehen davon aus, dass ein Groß­teil ihrer Kun­den (Mie­ter, Woh­nungs­wirt­schaft, In­dus­trie, Ge­wer­be) die­sen im­men­sen Kos­ten­sprung ab 2023 in Form stei­gen­der Ab­schlags­zah­lun­gen bzw. Rech­nun­gen nicht schul­tern wer­den kön­nen. Die Folge sind Zah­lungs­aus­fäl­le in Grö­ßen­ord­nun­gen und damit die Ge­fähr­dung der Li­qui­di­tät. Der­zeit geht bei­spiels­wei­se das städ­ti­sche En­er­gie­un­ter­neh­men für das kom­men­de Jahr von einer Li­qui­di­täts­lü­cke von meh­re­ren Mil­lio­nen Euro aus, etwa in Höhe der Bi­lanz­sum­me. Um die­sen Dif­fe­renz­be­trag vor­fi­nan­zie­ren zu kön­nen, be­nö­ti­gen die En­er­gie­un­ter­neh­men einen Schutz­schirm. Glei­ches hal­ten sie für ihre Kun­den für un­be­dingt er­for­der­lich.

Das sehen auch die Ver­tre­ter der kom­mu­na­len Woh­nungs­wirt­schaft so. Ge­setz­li­che Vor­ga­ben, wie die CO₂-Um­la­ge, der Ein­bau von Rauch­warn­mel­dern, die Grund­steu­er­re­form oder die Uni­per-Um­la­ge, bis 2026 zwin­gen­de Um­rüs­tung aller kon­ven­tio­nel­len Er­fas­sungs­ge­rä­te auf Funk (mo­nat­li­che Vor­hal­tung der Zwi­schen­wer­te an den Mie­ter, stei­gen­de Bau­zin­sen und Bau­prei­se (un­ter­bro­che­ne Lie­fer­ket­ten, Ma­te­ri­al­ver­füg­bar­keit, Fach­kräf­te­man­gel, co­ro­nabe­ding­te Aus­fäl­le, Min­dest­lohn) und stei­gen­de Be­schaf­fungs­kos­ten (Strom, Gas, Ver­si­che­run­gen, Was­ser, Haus­wart) wer­den durch die En­er­gie­kri­se wei­ter ver­stärkt.

Mehr als die Hälf­te der Mie­ter kön­nen auf­grund ihrer Ein­kom­mens­si­tua­ti­on die er­höh­ten En­er­gie­kos­ten nicht tra­gen. Laut Pro­gno­se sol­len die Kos­ten für Wär­me­er­zeu­gung und Warm­was­ser­auf­be­rei­tung für eine 55 Qua­drat­me­ter große Woh­nung um das Fünf­fa­che stei­gen (un­be­rück­sich­tigt blei­ben dabei die an­de­ren zu er­war­ten­den Ne­ben­kos­ten­er­hö­hun­gen). Ein „En­er­gie­de­ckel“ ist drin­gend er­for­der­lich. Die Fol­gen für die Woh­nungs­un­ter­neh­men sind Li­qui­di­täts­pro­ble­me (ins­be­son­de­re Miet­aus­fäl­le, Vor­aus­zah­lung er­höh­ter Be­schaf­fungs­kos­ten) – die von der Re­gie­rung an­ge­dach­ten zins­lo­sen Dar­le­hen für Ver­mie­ter für die Schul­den der Mie­ter (!) sind nicht ziel­füh­rend, keine Li­qui­di­tät mehr für Bau­vor­ha­ben (In­ves­ti­ti­ons­stopp), für die lau­fen­de In­stand­hal­tung, für eine Ge­stal­tung und Pfle­ge des Wohn­um­fel­des, keine Mit­tel für die wei­te­re Um­set­zung von Maß­nah­men der En­er­gie­wen­de, wie In­ves­ti­tio­nen in kli­ma­neu­tra­le Ge­bäu­de, Wert­ver­lust durch Des­in­ves­ti­ti­on bis hin zum wirt­schaft­li­chen Ruin und zur In­sol­venz der Woh­nungs­un­ter­neh­men in den Städ­ten. Auch der zu­ge­sag­te Heiz­kos­ten­zu­schuss wird ver­steu­ert und fällt im Hin­blick auf die Stei­ge­run­gen der En­er­gie­prei­se viel zu ge­ring aus. Auch eine un­ter­jäh­ri­ge An­pas­sung der Ne­ben­kos­ten­vor­aus­zah­lung ist nicht ge­set­zes­kon­form.

Ein si­che­res und be­zahl­ba­res Woh­nen ist in den Städ­ten und Ge­mein­den nicht mehr mög­lich. Das führt zu Frus­tra­ti­on und Exis­tenz­ängs­ten, zu so­zia­lem Un­frie­den und ge­sell­schaft­li­chen Ver­wer­fun­gen.

Die kom­mu­na­le Woh­nungs­wirt­schaft for­dert eine ge­si­cher­te und be­zahl­ba­re Ver­sor­gungs­la­ge zur Ge­währ­leis­tung einer sta­bi­len Wirt­schaft, eine Stär­kung des Wirt­schafts­stand­or­tes Deutsch­lands in­klu­si­ve des länd­li­chen Rau­mes, not­wen­di­ge ge­setz­li­che Än­de­run­gen ver­schie­de­ner Ver­ord­nun­gen und Ge­set­ze, bei­spiels­wei­se der Trink­was­ser­ver­ord­nung (Le­gio­nel­len­be­fall), der vor­ge­schrie­be­nen Raum­tem­pe­ra­tu­ren, eine mög­li­che An­pas­sung der Ne­ben­kos­ten­vor­aus­zah­lun­gen un­ter­jäh­rig, eine An­pas­sung der Sätze für die Kos­ten der Un­ter­kunft sowie ziel­ge­rich­te­te För­der­pro­gram­me.

Sehr ge­ehr­ter Herr Bun­des­mi­nis­ter, in Ihrem jüngs­ten Schrei­ben an die En­er­gie- und Wirt­schafts­mi­nis­ter der Län­der haben Sie die Ver­ant­wor­tung für eine Un­ter­stüt­zung der Kom­mu­nal­wirt­schaft an die Kom­mu­nen und Län­der zu­rück­ver­wie­sen. Das kann und darf nicht das letz­te Wort sein! Auch wenn erste Län­der be­reits erste Hand­lungs­mög­lich­kei­ten prü­fen und Un­ter­stüt­zung für den Fall an­kün­di­gen, dass kom­mu­na­le En­er­gie­ver­sor­ger un­ver­schul­det in exis­ten­zi­el­le Nöte ge­ra­ten, darf sich der Bund nicht aus der Ver­ant­wor­tung zie­hen. Un­ter­schied­li­che fi­nan­zi­el­le Spiel­räu­me von Län­dern und Kom­mu­nen dür­fen nicht dar­über ent­schei­den, ob Stadt­wer­ke, die eben­so sys­tem­re­le­vant für der Ver­sor­gung der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger sind, wie große En­er­gie­kon­zer­ne, die Krise über­ste­hen oder nicht.

Die bis­her an­ge­dach­ten Maß­nah­men be­kämp­fen le­dig­lich die Sym­pto­me, nicht die Ur­sa­chen. Um die­ses kom­ple­xe Pro­blem zu lösen, ist ein ganz­heit­li­cher und prag­ma­ti­scher An­satz un­ab­ding­bar. Denk­ver­bo­te müs­sen auf­ge­löst und das tech­nisch Mach­ba­re mit dem wirt­schaft­lich Sinn­vol­len ziel­füh­rend ver­bun­den wer­den. Un­se­re Ge­sell­schaft wird mit den zum Zeit­punkt an­lie­gen­den Pro­ble­men nicht mehr um­ge­hen kön­nen. Der Aus­bruch von Ge­walt, Po­la­ri­sie­run­gen zwi­schen den Men­schen, ex­tre­me Ein­bu­ßen des Zu­sam­men­halts und die Ver­elen­dung gro­ßer Be­völ­ke­rungs­tei­le wer­den die Folge sein. Aus die­sem Grund for­dern wir Sie ein­dring­lich auf, Ihre der­zei­ti­ge Stra­te­gie zu über­den­ken, und for­dern des Wei­te­ren:

Sehr ge­ehr­ter Herr Bun­des­mi­nis­ter, wir bit­ten Sie, alles in Ihrer Macht Ste­hen­de zu un­ter­neh­men, um un­nö­ti­gen Scha­den von Deutsch­land und Eu­ro­pa ab­zu­wen­den!

Mit freund­li­chem Gruß

Ra­pha­el Kür­zin­ger

Ober­bür­ger­meis­ter der Stadt Rei­chen­bach im Vogt­land

Für die Wirt­schaft: Ralf Schal­ler, Vor­sit­zen­der Wirt­schafts­ver­ei­ni­gung Nörd­li­ches Vogt­land e. V.

für die En­er­gie­wirt­schaft: Lars Lange, Ge­schäfts­füh­rer Stadt­wer­ke Rei­chen­bach/Vogt­land GmbH

Für die Woh­nungs­wirt­schaft: Da­nie­la Rasch­pi­cher, Ge­schäfts­füh­re­rin Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft Rei­chen­bach mbH

Rei­chen­bach im Vogt­land, den 1. Au­gust 2022

(Via Wo­chen­blick)

Mon­tag, den 1. Au­gust 2022, um 21 Uhr 58